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R. Leakey/ R. Lewin: Neueste Entdeckungen zur Vorgeschichte der Menschheit, 1979




In den Beständen einer Universitätsbibliothek bin ich durch Zufall auf ein Exemplar eines noch in recht kleiner Auflage erschienenen populärwissenschaftlichen anthropologischen Buches gestoßen, dem noch zahlreiche weitere Bücher desselben Autorenteams folgen sollten:
"Richard Leakey/ Roger Lewin: Die Menschen vom See. Neueste Entdeckungen zur Vorgeschichte der Menschheit."



Anthropologen, Gene, Aggression


Richard Erskine Leakey ist einer der Söhne der anerkannten Prähistoriker Mary und Louis Leakey, die mehrere fossile Hominidenformen entdeckt und beschrieben haben. Am Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre machte er mit verschiedenen Expeditionen im Gebiet von Omo (Äthiopien) und am Ufer des Turkanasees (Kenia) wichtige Entdeckungen früher menschlicher Fossilien.


Wer erwartet, in diesem zuerst 1979 erschienen Buch detaillierte Informationen zu diesen Funden zu erhalten, wird ziemlich enttäuscht. Sicher liegt das daran, dass man in einige Knochenreste nicht sehr viel hinein interpretieren kann ...
Vielleicht waren sich die Autoren auch selbst noch nicht im Klaren über den Stellenwert der Turkana-Funde... Hier wird beispielsweise noch die Ramapithecus-Theorie abgehandelt, die inzwischen völlig aufgegeben wurde. Der berühmte "Turkana Boy" wurde erst nach Erscheinen des Buches entdeckt.

Und so wird einfach ein allgemeines Szenario der ostafrikanischen Menschheitsentwicklung abgerollt, ohne genauer auf die Funde am Turkana-See einzugehen - das ist nicht sehr originell und führt den Leser an der Nase herum.
Dieses Buch unterscheidet sich von zahllosen anderen populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Ursprung des Menschen also hauptsächlich durch seinen relativ frühen Erscheinungstermin.

Es wird die These zweier unterschiedlicher Entwicklungslinien mit unterschiedlichem Ernährungsverhalten (Australopithecus africanus und boisei) behandelt. Die Theorien über Fleischverzehr und Jagdverhalten als Evolutionsmotoren menschlicher Entwicklung werden noch recht unideologisch vorgetragen. Eingehender wird auch auf die damals aktuellen Forschungen zur Entwicklung der intellektuellen und sprachlichen Leistungen im Tier-Mensch-Vorfeld eingegangen.


Genetik und Sexualität

Doch ich möchte mich auf die Interpretation eines Themas konzentrieren, dass global betrachtet vielleicht die meisten verhängnisvollen Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen der vergangenen Menschheitsgeschichte, vor allem aber auch in der gegenwärtigen Gesellschaft und Politik verursacht hat - man denke nur an die Hast, mit der alles, was mit Genetik zusammenhängt, gefördert wird ...

Es handelt sich um den Themenkomplex Sexualität, Aggression und Genetik, der zwar in diesem Buch eigentlich nur gestreift wird, aber besonders anfällig für den kategorischen Imperativ populistischer Argumentation ist.


In der zeitgenössischen westlichen Kultur muss in erster Linie ein ökonomisches Interesse an Sexualität bestehen, woraus zweifellos auch das neodarwinistische Gesäusel der Gen-Wissenschaftler resultiert, das Individuum müsse sich gegen die innerartliche Konkurrenz durchsetzen, um seinen eigenen Genen durch "natürliche Selektion" die Fortdauer zu ermöglichen.

So wird das Genom, das sich allerdings auf irgendeine Weise fortpflanzen muss, für das real existierende Einzelwesen genommen, das sich in einem Netz sozialer Beziehungen befindet und gerade durch den größten Egoismus seine Chancen zur Fortexistenz innerhalb der Art vermindert. Die Gene sind der neue Popanz.
Eine solche Verirrung scheint angesichts der Aggression der Moderne - Technokratie, Mediendiktatur, Anonymität - Erklärungsmustern zu entstammen, die es unternehmen, Aggression und Aggressoren (worunter stets die menschliche Gesellschaft verstanden wird) zu legitimieren, um sich dadurch auf die Seite der Aggression zu schlagen - im Namen der Fortentwicklung der Menschheit ...


Der Autor (der Koautor ist nur wissenschaftlicher Berater) scheint dem Vergleich des Sexuallebens von Menschen und Affen immer wieder einen Reiz abgewinnen zu können, wird beim Thema geradezu ausgelassen ... Er weist darauf hin, dass die menschliche Sexualität viel ausgeprägter sei als die tierische: Menschen-Frauen seien stets sexualbereit, Schimpansen-Frauen aber nur einmal im Jahr; möglicherweise habe der Mensch sein Haarkleid sogar infolge seines exzessiven Sexuallebens verloren.
Das passt doch trefflich in die Konzepte der Filmschaffenden, Werbestrategen und des Wellness-Kults, die in einem wilden, animalischen Sex bis ins höchste Alter seit Jahrzehnten ihr wichtigstes Verkaufsargument sehen!


Doch auch die Frage der Hahnreie in einer Welt genetisch diktierter Hordenführer lässt Richard Leakey nicht völlig unberührt ...
Zuletzt räumt er zwar ein, dass der Mensch nicht gänzlich von Genen bestimmt ist, die durch männliche Sexualprotze selektiert werden, denen möglichst viele willige Weibchen angehören. Die Rolle der Gene der weiblichen Sexualpartner bleibt in derlei Diskussionen trotzdem weitgehend im Dunkeln und unberücksichtigt.

Das Diktat der Gene zeige sich bei vielen Primaten-Arten in der Tötung der Nachkommen eines Rivalen durch das siegreiche und nun die Horde anführende Männchen. - Solche Verhaltensweisen kommen aber nicht bei allen Primaten vor.
Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang auch auf die Theorie, dass familiäre Beziehungen deshalb so eng sind, weil sie dem Erhalt der eigenen Gene dienen - durch "Verwandtschaftsselektion".


Aber das sind alles Hilfestellungen für eine vorgegebene Ideologie, den Popanz des genetischen Codes!
Warum sollte ein Individuum denn überhaupt Interesse an der Vererbung seiner Gene haben? - Jedes Einzelwesen hat bestenfalls ein Interesse am Überleben seiner innerartlichen Gruppe als physisch reale Instanz. Weil sie es ist, die seine Existenz sichert, und nicht die Genetik.

Auch Altruismus fördert das Überleben der einzelnen Individuen, zu dieser Erkenntnis hat es keine Jahrtausende menschlicher "Höherentwicklung" gebraucht, sie scheint schon einfachsten biologischen Systemen eigentümlich zu sein. Oder sollte etwa die Umwelt und die Knappheit ihrer Ressourcen nur für das Überleben eines Einzelwesens ausreichen und nicht für das seiner/ihrer Art und Lebensgemeinschaft?


Die biologischen Anforderungen an weibliche Tiere und Menschen bei Schwangerschaft und Geburt (Energiebedarf) sind allerdings viel größer als die Anforderungen an die männlichen. Doch es gebe andererseits überall im Tierreich Hilfeleistungen der Männchen bei der Aufzucht, besonders bei den Fischen und Vögeln.

Die Attraktivität des Männchens beim Weibchen ermöglicht sein genetisches Überleben; also sollte es seine Attraktivität beim Weibchen insbesondere durch die Sicherstellung von Ressourcen zu erhöhen versuchen. Das Heranschaffen von Nahrung und die Abwehr von Feinden wären dann zweifellos ein Bestandteil der männlichen Brutpflege.
Daraus wird ebenso messerscharf wie unlogisch gefolgert, Kapitalismus und Polygamie seien "das naturgemäß zu erstrebende Ziel für Mann wie Frau" ... Dabei sind Kapitalismus und Polygamie eher Sinnbild der Asozialität und Destruktivität genetischer bzw. ökonomischer Zwangsvorstellungen.


Aggression

Die Wissenschaft sei zum Schluss gekommen, dass Raymond Dart, der Erfinder der "osteodontokeratische Kultur", seinen anerzogenen Vorurteilen und seiner Fantasie freien Lauf ließ, wenn er den Vormenschen als einen gierigen Kannibalen sah, der Artgenossen ständig mit der Keule verfolgte und dann vertilgte. Er hatte die Unvollständigkeit fossiler Überreste auf Gewaltanwendung der frühen Hominiden untereinander zurückgeführt. Der Drehbuchautor Robert Ardrey vermittelte diese Gedankenwelt einem breiten Publikum. Aber auch Konrad Lorenz habe anscheinend geglaubt, dass der Faustkeil zum Töten erfunden worden sei, und das Feuer zum Braten von Artgenossen.

Die Bestätigung eines Zusammenhangs zwischen der Grausamkeit des Menschen und seiner tierischen Herkunft ist möglicherweise das, was manche Menschen lesen wollen, aber vielleicht auch das, was sie lesen sollen: Eine "genetische Vorgabe" wäre die überzeugenste Legitimation für den starken Mann, das Wettrüsten und den Präventivschlag.

Wahrscheinlich ist doch wie in der Tierwelt vieles, was nach Aggression aussieht, in Wirklichkeit ein Bluff, um soziale Rangfolgen zu beeinflussen.
Auch die weiter zunehmende Häufigkeit der Kriege in der Geschichte deutet darauf hin, dass kriegerische Aggression eher das Ergebnis einer materiellen Kultur als eine genetische menschliche Veranlagung ist. Kriegerische Aggression lässt sich rational auch durch Ressourcenknappheit erklären.


Eine Reihe von Autoren, darunter Siegmund Freud und Konrad Lorenz, haben Aggressionen und den Schrecken des Krieges auf angeborene Instinkte zurückzuführen versucht.
Nach Freud mussten die Herangewachsenen unter den Frühmenschen den sexuellen Kontakt mit dem Harem des Vaters vermeiden (vgl. Freuds "Inzesttabu/ Ödipus-Komplex"). Andererseits "töteten und verzehrten" sie aber den Vater als Anführer der Horde, um selbst sexuell zum Zuge zu kommen.

Nun wird in diesem Buch beiläufig ein gegenüber anderen Primaten angeblich abweichendes Sozialverhalten der Schimpansen erwähnt: Bei ihnen gibt es gar kein sexuelles Herrentier als Vaterfigur, die Männchen tolerieren einander, und die Weibchen können selbst über das Inzesttabu bestimmen, indem sie Verwandte (insbesondere das Herrentier) abweisen. Und das wird so erklärt:
Bei den meisten Primaten verlassen die Männchen die Gruppe und schließen sich einer anderen an. Bei den Schimpansen sei es aber umgekehrt, die Weibchen wechseln die Gruppe. Offenbar dämpft die Blutsverwandtschaft der männlichen Schimpansen die Aggressionen.

Für mich ist dieses Erklärungsmuster insofern interessant, weil es die polarisierende Verfechtung einer Gesellschaftsordnung des Patriarchats bzw. des Matriarchats ad absurdum führt. Denn die patristische Ordnung blutsverwandter Männer wäre dann gar keine Quelle der Aggression, sondern ein Verhaltensmuster des Aggressionsabbaus.
Und es wäre dann sogar die matristische Ordnung blutsverwandter Frauen, die besonders aggressive "Männchen" hervorbringt, weil nur diese sich bei ihnen durchzusetzen vermögen ...


[Richard Leakey/ Roger Lewin: Die Menschen vom See. Neueste Entdeckungen zur Vorgeschichte der Menschheit. C. Bertelsmann V., München, 1980.]


©  Stephan Theodor Hahn, Bad Breisig, am 5.4.2009





Thema Umwelt