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Geschichte und Kritik der materiellen Kultur












Gesellschaftliche Erfahrung


Aggression ist eine Interaktion zwischen Organismen. Wenn nicht von wilden Tieren, so muss sie von gesellschaftlichen Beziehungen ausgehen.

Ronald D. Laing beschwor in dem Buch 'Phänomenologie der Erfahrung (The Politics of Experience, 1967)' einen alles beherrschenden Aggressionstrieb herauf, der versucht, "die eigene und anderer Leute Erfahrung zu zerstören" [Laing 1969, Abschn. III].
Verdrängt werde das durch die Konstruktion eines 'falschen Bewusstseins'. Dieses dient also als eine Art Ersatz-Erfahrung.


Auch die elterliche Liebe gehöre zu diesen maskierten Kräften der Gewalt, da sie den Kindern ein verrücktes Weltbild aufzwinge.
Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse seien weniger gegebene ('data') Fakten als angenommene ('capta') Ideen. Die menschlichen Beziehungen werden in ihnen einer extremen Funktionalisierung (Ökonomisierung) unterzogen.
Laing thematisiert als Beispiel die Funktion des Mannes in der Ehe, die sei nämlich "das Leisten von ökonomischem Unterhalt, Status und Schutz (in dieser Reihenfolge)".
[Laing 1969, Abschn. III]

Sehr schön, dass hier auch einmal die Absurdität des Rechenunterrichts angedeutet wird ... Für die Erwachsenen, die sich über ihn hinwegsetzen, wäre er nicht absurd, aber in der Kindheit ist er es!



Aggression und Konsens durch Verneinung des Ego


Laing gründete die gesellschaftlichen Strukturen wohl fälschlich auf Aggression. Sein Buch ist daher leider voller Axiome, die jede Gemeinsamkeit zerstören, wie beispielsweise: "Wir würden uns mit Freuden gegenseitig die Kehle durchschneiden."

Doch macht er diese angebliche Aggressivität nicht wirklich plausibel.
Beiläufig behauptet er einmal, es seien individuelle Wünsche, die wegen der mengenmäßigen Beschränktheit der Wunschobjekte zur Aufhebung der Gemeinschaft zwängen [Laing 1969, Abschn. IV].


Andererseits folgt die "Intoleranz gegenüber abweichenden fundamentalen Erfahrungsstrukturen" aus einem starken Bedürfnis nach Konsens.

Die Projektion von Kollektivvorstellungen, die als physikalische Realität empfunden werden, ist mit der sozialen Verpflichtung verbunden, sie wieder zu introjizieren.
"Die menschliche Szene ist eine Szene von Vorspiegelungen und dämonischen Pseudo-Realitäten: alle glauben, alle anderen würden daran glauben." [Laing 1969, Abschn. IV] Die Meinung des Einzelnen entspringt gar nicht seinem eigenen Denken, sondern seinen Annahmen vom Denken der Anderen.

Laing verneinte also das Ego des Menschen in der damaligen britischen Gesellschaft.


Zuviel Ego wird in der Tat als störend empfunden, aber gar kein Ego ist auch von Übel. Als Erklärung der von Laing angenommenen Aggression schlage ich vor: Die Gesellschaft kann zu einem aggressiven Bewusstseins-Verband ('Nexus') werden, der das Ego ersetzt.

Schon ohne organisatorische Strukturen entsteht eine kollektiver Nexus, der ubiquitär gedacht wird, aber auch Loyalität einfordert [Laing 1969, Abschn. IV]. Dieser Nexus scheint sich auf Gruppen- und Familienebene zu verstärken, indem eine "außerordentlich gefährliche" Außenwelt projiziert wird und Terror als Gegenmittel im Inneren ausgeübt wird.

Weniger apodiktisch-totalitär wäre die sozialpsychologische Regel, dass sich lediglich Gruppenidentitäten herausbilden, die keinesfalls ubiquitäre Ziele verfolgen.



Inszenierte Repression


Mit einiger Mühe lassen sich die in den “Politics of Experience” vorgetragenen Aggressionsmuster folgendermaßen ableiten: Die eigene persönliche Erfahrung oder Wahrnehmung des Anderen kann von diesem niemals seinerseits erfahren werden. Dadurch sind beide Personen füreinander psychologisch ("als Menschen") unsichtbar [Laing 1969, Abschn. I].
(Das sagt ein Psychologe!)


Sowohl Gemeinsamkeit wie Andersartigkeit seien durch ihre Nichtexistenz Phantasien. Eigentlich ist jeder der Andere, der 'Outsider', und muss sich bemühen, das zu verbergen. [Laing 1969, Abschn. IV]

Laing schürt also Unsicherheit und Misstrauen.


Der Triumph der Rechten gegenüber anderen Weltanschauungen ist, diesen Outsider-Individualismus durch simpelste Gemeinsamkeiten (Nation, Religion, Wohlstand) zu ersetzen.

Die wachsenden gesellschaftlichen Probleme lassen jedoch ein starkes Unbehagen über die "Trägheit menschlicher Gruppen" [Laing 1969, Abschn. IV] in Struktur und Verhalten entstehen. Diese Trägheit ist darauf zurückzuführen, dass die Gruppe die Erfahrungsrealität ihrer Mitglieder geworden ist.

Allerdings wurde auch schon von Laing gesehen, dass das Individuum in Wahrheit mehreren Gruppen zugehörig ist, die ihm alle einen bestimmten Verhaltensmodus oder sogar eine "innere Transformation" abverlangen.


Einschüchterung und Unterwürfigkeit als das eigentlich psychopathische Verhalten werden als normales Verhaltenmuster anerzogen.

Laing betont die repressive Institution der 'Respektabilität' als gesellschaftliche Leitidee. Sartre wird zitiert, der diese mumienhafte Respektabilität mit der Ahnenverehrung primitiver Kulturen vergleicht. [Laing 1969, Abschn. III]



Die Institution(en) und vor allem auch die Infrastruktur der Heilanstalt (und ebenso die der normalen Welt ...) dienen als Instrumente der Abqualifizierung, gegen welche nur extreme Akte eine Aufmerksamkeit erwecken können, die dann sogleich als Symptome der Psychopathologie (oder als Indikatoren politischen Terrors) etikettiert werden [Laing 1969, Abschn. V].

Die zwanghafte Anpassung an eine kognitions- und funktionsgestörte gesellschaftliche Formation dürfte hingegen der eigentliche pathologische Vorgang sein.


Das System der Psychiatrie wurde von Laing als Koalition von Verschwörern charakterisiert, die einen Personenkreis einem "Degradierungszeremoniell" aussetzt, um ihm die Entscheidungsfreiheit und sogar die Menschenähnlichkeit zu rauben [Laing 1969, Abschn. V].

Das Prozedere beruht vor allem darauf, die Kommunikation der auf diese Art Belasteten zu unterdrücken bzw. zu missachten.
Diese Unterdrückung ist vergleichbar mit der, die wir in der heutigen Zukunftswelt durch medial inszenierte Repression erleben und in allernächster Zukunft durch Künstliche Intelligenz erleben werden.


Laing wies auf die Unterdrückung von Erfahrungswerten und Kommunikation durch die Ideologien der Gesellschaft hin. Noch viel größer ist diese Unterdrückung durch die aberwitzigen Dogmen der Religion, wie sie beispielsweise in den alttestamentarischen Überlieferungen dokumentiert sind.


Das Buch “The Politics of Experience” setzte sich mit dem Problem des allgemeinen Irreseins der Gesellschaft auseinander. Sein Autor redet einmal von "offizieller Psychose".

In dieser Situation wäre zu rechtfertigen, als Gegenstrategie selbst ebenfalls verrückte Aktivitäten auszuüben.



Quelle:

Ronald D. Laing: Phänomenologie der Erfahrung. Frankfurt/M., 1969. ("The Politics of Experience", 1967)
- Abschn. I: Person und Erfahrung
- Abschn. III: Mystifikation der Erfahrung
- Abschn. IV: Wir und sie
- Abschn. V: Schizophrene Erfahrung




©  Stephan Theodor Hahn, Bad Breisig, am 12.11.2025