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Ein neues Projekt zum Thema Technokratie und Desinformation



Das Streben nach Wissen


Erfahrungen und Erkenntnisse erhellen immer nur einen kleinen Teilaspekt des Geschehens, woraus sich schon bald die Erfordernis zur Ergründung weiterer Zusammenhänge ergibt. Derselbe Vorgang dürfte auch in der Psyche recherchierender oder wissenschaftlich tätiger Individuen wirksam sein. Leider scheint damit im profanen Alltag genauso wie im akademischen Leben das Phänomen verknüpft zu sein, immer weiter forschen zu müssen, ohne je etwas zu wissen.


In der ersten Ausgabe der "Lektüre für Minuten", die noch zu Lebzeiten Hermann Hesses erschienen ist, fand sich eine annehmbare Darlegung der Begriffe ‘Weisheit - Wissen - Wahrheit’.

Weisheit sei das Erfassen des Ganzen.
Wissen könne man mitteilen, Weisheit aber nicht, denn "alles, was mit Gedanken gedacht und mit Worten gesagt" werde, möge zwar der Wahrheit entsprechen, sei aber einseitig und entbehre der Ganzheit ... [Hesse 1977]

Ich meine allerdings, auch wissenschaftliche Wahrheit - noch viel wichtiger ist allerdings empirische Wahrheit - könnte als Wissen zur mikrokosmischen Grundlage für makrokosmische Weisheit werden.

An anderer Stelle schreibt Hesse, Weisheit sei die "Einordnung des Menschen in die Natur" und die Emanzipierung von ihr sei eine Scheinbefreiung, die in die Sklaverei führe.


Was man außerdem noch wissen muss:
A. Alle Wissenschaft und Technik kann die Fülle des Daseins nicht aufwiegen.
B. Die Zerstörung dieser Daseinsfülle ist nicht zuletzt auf eine fehlgeleitete Wissenschaft und Informationspolitik zurückzuführen.


Man kann aber behaupten, dass es eine Autorität des Wissens und eine Antiautorität des Nichtwissens gibt.

Wissen und Weisheit sind auf Grund ihrer Komplexität schwer kommunizierbar. Kommunizierbarkeit ist aber Kennzeichen und Zweck menschlicher Informationsvermittlung.

Andererseits kann das Erlangen von Wissen relativ schnell durch hochwertige Information erfolgen. Durch Desinformation kann es zu einem langwierigen Prozess oder sogar gänzlich verhindert werden.


Wissen könnte aber auch eine reine Kopfgeburt sein; die Wissenden um eine Ideenwelt wären dann lebensuntüchtige Menschen. Selbst gesellschaftliche Wissenskonstrukte sprechen den realen Verhältnissen oft Hohn!


Die Produktion von Wissen und Information könnte eine Gender-induzierte, eher männliche Verhaltensweise sein. Auch weibliche Lebewesen tragen Information, die sie aber offenbar lieber nicht der ganzen Welt, sondern einem intimeren Umfeld weitergeben.

Detailreiche Wissens- und Technologie-Kataloge und -Konstrukte sind auch die bevorzugten Tätigkeitsfelder des Spießertums.
Was Sie hier lesen, ist demgegenüber natürlich ein absolut notwendiges Brainstorming ...


Der Mensch investierte Jahrzehnte seines Lebens in eine Ausbildung, deren Gehalte mehr als fragwürdig waren.
Die Gesellschaft investierte Milliarden in die Ausbildung von Wissenschaftlern, die sich in voluminösen Periodika auf dem Niveau von Wickelkindern mit den Problemen des Zusammensetzens von Bauklötzen beschäftigen.
Bis in heutige Zeiten hat man sich mit der systemischen Wissensfeindlichkeit der Religion auseinanderzusetzen.

Daher muss man im Alltag bei der Suche nach Informationen zu existentiell wichtigen Fragen oder zu zeitgeschichtlichen Vorgängen immer noch mit erheblichen Wissensdefiziten kämpfen.

Man kann sogar zum Schluss kommen, dass nicht nur journalistische und pädagogische, sondern auch wissenschaftliche Arbeiten zur Verbreitung von Desinformation missbraucht werden, wenn sie nicht ausschließlich der Desinformation dienen. Die meisten Wissensdefizite scheinen künstlich herbeigeführt zu werden.

In der Wikipedia ist augenblicklich zu beobachten, dass die einzelnen Themen und Begriffe mit überbordenden Textmassen geflutet werden, auf eine Weise, dass keine relevante Information mehr aus ihnen zu ziehen ist.
Zuvor war sprachlicher und gedanklicher Minimalismus eine populäre oder modische Verhaltensweise, die jedes theoretisierende Denken im Keim ersticken sollte.

All diese unübersichtlichen Angebote an Information, Pseudoinformation und Desinformation zwingen zu sehr arbeitsaufwändigen Methoden der Analyse und Bewertung.



Wissenssysteme und notwendige Lernprozesse


Individuelles und kollektives Wissen ist wandelbar und labil gegenüber Einflüssen. Nur die Negation von Wissen scheint stabil zu sein.


Foucaults "Archäologie des Wissens" galt dem Wandel der Wissenssysteme (kollektives Wissen) in vier kulturgeschichtlichen Schritten [nach: Hörisch 2004]:
I. Im Mittelalter Vertrauen auf die bloße Ähnlichkeit von Dingen.
II. In der Klassik Vertrauen auf die Repräsentation und Klassifikation der Dinge durch Begriffe.
III. Seit dem 19. Jh. zunehmende Positionierung des Menschen in das Zentrum des Wissens beider Sphären, der empirischen und der transzendentalen Sphäre. Diese philosophische Haltung wird als Humanismus bezeichnet. Schon dieser “Humanismus” als brutaler Anthropozentrismus hat sich als äußerst verhängnisvoll herausgestellt.
IV. Im 20. Jh. Erkenntnis (nicht zuletzt durch die Psychoanalyse Freuds), dass der Mensch trotzdem eine nur marginale Rolle spielt, ein Phänomen, mit dem jedes Individuum in Form von Sachzwängen konfrontiert wird. Einige Wissensbereiche (wie die Evolutionsbiologie beispielsweise) höhlten die Stellung des Menschens auch von innen aus und wurden genauso wie die ganze Foucault'sche Analyse als anti-humanistisch verteufelt.

Umso bereitwilliger ordnete man den Menschen Ideologien und Technokratien unter. Inzwischen scheint man zu wissen, dass die Humanität auch vollständig der Technifizierung und Virtualisierung überantwortet werden kann.



Auch das individuelle Wissen unterliegt einem Wandel.

Jugendliche sollen angeblich leicht manipulierbar sein, was sie zum Ziel aller möglichen Indoktrinationen macht. Das politische Verhalten der älteren Generation sei indessen von irrationalem Starrsinn geprägt. Als Erzieher und Manipulatoren beeinflussen sie die Jugend im Sinne längst obsoleter Weltbilder, die sie möglicherweise in jugendlicher Unvernunft angenommen haben ... Andererseits verfügen sie naturgemäß über einen weit größeren Erfahrungspool als die Jugend.

Die plakativen Unterschiede zwischen den Lebensphasen wären somit:
- bewunderungswürdige Lernleistungen der Kindheit,
- partielle Lernblockaden der Ausgewachsenen,
- manchmal katastrophales Lernversagen der in das System eingewachsenen und mehr oder weniger einflussreichen Persönlichkeiten hohen Alters.



Wir sehen uns der schier unlösbaren Aufgabe gegenüber, den allenthalben anfallenden Berg von unnützer Information und Wissenschaftlichkeit in ein übersichtliches Skript von nützlichem Allgemeinwissen zu verwandeln.

Die 'Episteme' (= griech. Wissen, Wissenschaft) wurde von Aristoteles von der 'Techne' (= griech. Können) abgegrenzt.

Als wichtiges Bindeglied sowohl zur Vermittlung von Wissen aus Können als auch zur Vermittlung von Können aus Wissen dient Information.

Ich setze hier zusätzlich noch als verlässlichste Information die Wirklichkeit. Können wir denn irgendetwas?

Dieses Beispiel der Entstehung von Können und Wissen zeigt die wichtige gesellschaftliche Funktion von Information.



Es gibt einen gewissen Gegensatz zwischen Erfahrungswissen und kanonisiertem Wissen (auch als implizites und explizites Wissen bezeichnet), Information, die sich aber eigentlich nur in der Art ihrer Darreichung unterscheidet - nämlich einerseits durch Anschauung und praktische Handlung und auf der andere Seite durch Lehre und wissenschaftliche Methodik.


In dem Wikipedia-Artikel "Pneuma" wurde ein potentieller Konflikt zwischen implizitem und explizitem Wissen prägnant in einem Satz festgehalten: "Paulus setzte dem positiv bewerteten 'pneuma' als Wesen des Geistes antithetisch das 'gramma', das alte Wesen des Buchstabens, entgegen .." [Wikipedia-Artikel "Pneuma", Stand: 6. Oktober 2014]

Das wirkliche Problem liegt aber vielmehr darin, dass auch der Geist der alten Überlieferungen nicht selten von der unheiligen Art war und nicht nur Jesus Christus das Leben gekostet hat.


Da der einzelne Mensch nicht alle Erfahrungen der Welt machen kann, muss er zuweilen auf kanonisiertes Wissen zurückgreifen.

Natürlich muss auch das kanonisierte Wissen letztendlich auf einem sich an der Wirklichkeit messenden Erfahrungswissen aufbauen, doch ist es vor allem mit Schwierigkeiten verbunden, kanonisiertes Wissen zu Allgemeinwissen zu machen. Der grundsätzliche Missstand, dass die öffentlich verbreiteten Wissenskonzepte und kanonisierten Wissenssysteme nicht selten jeder realen Erfahrung und sogar Moral widersprechen, ist die Hauptursache.

Zum Entscheidungsträger wird man nicht durch Lebenspraxis und Weisheit, sondern durch eine Folge fragwürdiger Bildungsangebote in jugendlichem Alter, die auf expliziten Disziplinen wie schriftsprachlichen und mathematischen Fähigkeiten und Ideologien beruhen. Auch der weitere Lernprozess dürfte auf einen ziemlich unzureichenden und wirklichkeitsfernen Diskurs aufbauen.

Ein wissenschaftlicher Aufstieg als Interaktion mit praktischer Erfahrung ist nicht einmal vorgesehen.
Zwar wird das auf einer Berufsausbildung ohne Abitur aufbauende Studium inzwischen zugelassen (innerhalb gewisser Quoten), 2015 hatten aber nur 1,8 % der Studenten diesen Weg genommen [Steinbacher 2015].
Wahrscheinlich ist es sogar das Berufsleben selbst, das den Zugang zu wichtigen Informationen verbaut.



Implizites und explizites Wissen


Das ursprüngliche Ziel des 'expliziten Wissens' dürfte sein, Dinge zu erklären, Verständnis zu schaffen und zu vermitteln.

Explizites Wissen wird aber oft als Theorie im populär abwertenden Sinne empfunden. Und diese Art von Theorie bedeutet tatsächlich in den meisten Fällen die Vorwegnahme des Exitus oder der Exstirpation einer natürlichen Welt.

Auch wissenschaftliche Dokumentation hat das Ziel, 'explizites Wissen' zu schaffen, das mittels Text und Zeichen kodiert ist und in formalen Publikationen kommuniziert wird [Wikipedia-Artikel "Explizites Wissen", Stand: 4. April 2013].


Doch mit Hilfe expliziten Wissens kann auch ein hoher Grad autodidaktischer Erkenntnis erreicht werden, was für den Bildungsweg wichtig ist. Das explizite Wissen kann andererseits veralten oder vom Alltag verdrängt werden. Aus diesem Bodensatz des Wissens entstehen Konventionen und Rituale als Degenerationsformen expliziten Wissens (Theorie im negativen Sinne).

Es besteht ein allgemeines Interesse daran, das Wissen wichtiger gesellschaftlicher Funktionen von der Bau- bis zur Heilkunst zu kodifizieren und auf einem aktuellen Stand zu halten. Doch ebenso wie sich über die Kodifizierung des Rechtes sowohl Schurkenstaaten wie die Schurken der Staaten hinwegsetzen, wird eine Kodifizierung der Künste und Gewerbe von denen, die sich in diesen Bereichen ganz nach Gusto betätigen, nicht gerne gesehen.


Die Theorie des 'impliziten Wissens' bzw. eines sinnlich-leiblichen Erfahrungswissens soll ursprünglich von Maurice Merleau-Ponty ("Phänomenologie der Wahrnehmung" 1966) stammen [Böhle et al. 2001].

Innerhalb produktions-orientierter Gesellschaftsstrukturen entstand die Forderung nach praktischem Erfahrungswissen ('tacit skills') statt nach theoretischen Qualifikationen. Auch dieses Wissen ist heutzutage allerdings rein technologisch und damit indirekt irrational orientiert.

Implizites Wissen ist beispielsweise die Fähigkeit des Bedienens von Technik und Maschinen. Aber es wäre auch die Fertigkeit und Selbstüberwindung des Verfassens von literarischem und wissenschaftlichem Spam.


Folglich wäre die Aufbereitung und Verbreitung von explizitem Wissen die grundlegendere und wichtigere Aufgabe!
Man muss daher im expliziten Wissen die Möglichkeiten der Erweiterung des impliziten Wissens durch "kognitive Spezifikation und die Orientierung auf praktische Problemlösungen" [Abel 2014] suchen.

Und tatsächlich wird Erfahrungswissen von der Wissenschaft zumeist als unzulänglich und kognitiv nachrangig (unwissenschaftlich) angesehen. Normgerechte Wissenschaft beruht demgegenüber auf dem Ausschalten des Alltags-Verstandes, allerdings auch auf dem Einschalten zusätzlicher "kognitiver Ressourcen".


"Aus dem wissenschaftlichen Anspruch auf Generalisierung" [Böhle et al. 2001] und dem Gegensatz zwischen implizitem und explizitem Wissen können schwer überbrückbare Konflikte entstehen.
Es wäre aber auch nicht richtig, einfach ausschließlich die Fakten des Könnens, also dessen, zu dem der Mensch fähig ist, in Wissen umzusetzen, ohne beispielsweise ethische Grundsätze und das ökologische Gleichgewicht zu berücksichtigen.


Es gibt eine prä-akademische Wissenschaft.
Nicht nur im wirklichen Leben, sondern auch in jeder ernsthaften Berufsbildung muss man sich systematisch über Abläufe und Zusammenhänge des Berufs informieren und sollte das gewonnene Wissen auch dokumentieren. Damit geht man über die bloße Aneignung impliziter Fertigkeiten hinaus.
Die Aufarbeitung impliziten Wissens liegt außerdem immer noch im Trend, um es für die industrielle Produktion nutzbar machen zu können.
Von Übel wäre im Gegenteil, wenn die gesellschaftlichen und technischen Strukturen von Menschen entwickelt würden, die überhaupt keinen Bezug zur Praxis und zur realen Umwelt mehr hätten.

Dennoch gibt es zu wenige Berührungspunkte zwischen Wissen und Praxis, schon allein deshalb, weil implizites und vorbewusstes Wissen sich nicht leicht in den Bereich expliziten Wissens überführen lassen. Hier wurde von den neuen Informationstechnologien ein großes Terrain erschlossen.


Günter Abel lieferte eine grundsätzliche Anleitung für diese Transformierung [Abel 2014]:

I. Bewusstmachung der Komponenten des impliziten Wissens.
Dabei wird zwischen einem distalen und einem proximalen Anteil unterschieden - distal ist der definierte Ablauf eines Vorganges, proximal ist seine praktische Umsetzung, beispielsweise mit Hilfe bestimmter Körperfunktionen.

II. Definition richtigen Verhaltens.
Auch gesellschaftliche, moralische und rechtliche Normen beruhen zuerst auf impliziten Verhaltensmustern, die erst nachträglich theoretisiert werden.

III. Deutlichmachung der Vielfalt der Weltbilder und Lebensweisen.


Gerade in einer Gesellschaft, in der die Hybris der Technologie immer deutlicher wird, sollte das Augenmerk stärker auf die Erfahrungswelt verlegt werden. Der Mensch der idealisierten Technologiegesellschaft bliebe kognitiv unvollständig, da er nie einen Horizont gesehen, nie extreme Beanspruchungen oder eine unmittelbare Bedrohung erlebt, kurz, nie eine Erfahrung gemacht hätte. Das letzte Abenteuer der Technologiegesellschaft ist die Autobahn und der Druck aufs Gaspedal ihre letzte Lebensäußerung.




Literaturangaben:

Hermann Hesse: Lektüre für Minuten. Frankfurt/ M., 1977.
Fritz Böhle et al.: Grenzen wissenschaftlich-technischer Realität und 'anderes Wissen' (in: U. Beck/ W. Bonß (Hg.): Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt/M., 2001.)
Jochen Hörisch: Theorie-Apotheke - Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen. Frankfurt/M., 2004.
Wikipedia-Artikel "Explizites Wissen", Stand: 4. April 2013
Wikipedia-Artikel "Pneuma", Stand: 6. Oktober 2014
Günter Abel: Das ungenutzte Wissen (in: W.I.R.E. [= Web for Interdisciplinary Research & Expertise]: Was zählt - 2015. Berlin, 2014.)
R. Steinbacher in: Süddeutsche Zeitung, am 12.10.2015.



©  Stephan Theodor Hahn, Bad Breisig, am 16.11.2025