Logo



Geschichte und Kritik der materiellen Kultur









Aus der Welt des Totalitarismus





Androhung eines Nuklearkrieges


Die Sowjetunion hatte sich mit dem 2. Weltkrieg als eine der wichtigsten Militärmächte etabliert. Noch bedrohlicher war aber die hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie sich in den Besitz von Nuklearwaffen bringen könnte, was Mitte der 1950er Jahre auch eintrat.

Nur durch diese Aneignung einer Vernichtungswaffe, die die Vereinigten Staaten selber schon besaßen und auch noch eingesetzt hatten, wurden die Russen zum schlimmsten Feindbild der westlichen Welt, so dass man ernsthaft erwog, diesen Feind prophylaktisch mit Atombomben anzugreifen oder zu vernichten. [Morris 2013, Kap.5]

Das ist ein ernüchterndes Ansinnen für eine Gesellschaft mit anti-imperialen Grundwerten. Übrigens stand ja auch die USSR nach außen hin für diese anti-imperialen Grundwerte.

Eisenhowers "New Look"-Doktrin von 1954 galt auch für die NATO: "Bodentruppen sollten auf ein absolutes Minimum reduziert werden und nur noch als Stolperdrähte dienen, die Atomangriffe auslösten." [Morris 2013, Kap.5]

Ich verstehe nicht, wie sich in diesem Umfeld jemand über Mao Tse tung mokieren kann, weil dieser bei sich bietender Gelegenheit vortrug, China lasse sich auch nicht durch Atombomben schlagen, seine Bevölkerung sei einfach zu groß. Sicher ärgerte es die obszönen Debattierer [nämlich: Henscheid/ Henschel 2000], dass da nicht einmal ein präventiver Atomschlag etwas ausrichten könnte.
Wie böse von Mao!


In der westlichen Welt wurde die Atombombe seinerzeit das Sinnbild dafür, "dass Krieg unter gar keinen Umständen zu irgendetwas gut sei" [Morris 2013, Kap.5], denn sie vernichtet nicht nur den Feind, sondern auch die Beute.

In der Welt der Sowjetunion galt sie indessen als das angemessenste Instrument der rechten Gesinnung. Man plante den Angriff auf Westeuropa unter Zuhilfenahme des massiven Einsatzes von Atomwaffen, die Breschen in die NATO-Linie reißen sollten, und wollte den Rest dann mit konventionellen Verbänden im Schutzanzug erledigen.
Das behauptet jedenfalls Ian Morris in seinem Buch über die zivilisatorische Wirkung des Krieges.


Am 26.9.1983 kam es zum Abschuss einer südkoreanischen Verkehrsmaschine über Sibirien, die sich verirrt hatte und die von der russischen Technik für einen nuklearen Flugkörper gehalten wurde. Die technologische Eskalation zur nuklearen Abwehr wurde zweimal eingeleitet und nur dank des Eingreifens von Stanislaw Petrow als Fehlalarm klassifiziert. Ihm wurde es von der russischen Armee mit Degradation gedankt. [Morris 2013, Einl.]


Ian Morris glaubt die frohe Botschaft verbreiten zu können: "Es gibt auf der Welt nicht mehr genügend Gefechtsköpfe, um uns alle umzubringen." [Morris 2013, Kap.7]

Ein totaler Atomkrieg könnte zur Zeit nur noch bis zu 100 Mio. Menschenleben fordern gegenüber der früher möglichen zehnfachen Zahl.
Das liege daran, dass man nukleare Gefechtsköpfe, weil sie präziser ihr Ziel erreichen können, heute deutlich kleiner konzipiere. Die USA habe ihre Plutoniumproduktion 2013 aus Kostengründen gestoppt.

Außerdem gibt es nur noch einen Bruchteil der Zahl von Nuklearsprengköpfen wie zur Zeit der Sowjetunion [Bulletin 2024].


Die Beruhigung des Gewissens der Nuklearstrategen könnte aber in Zukunft die Hemmschwelle für den Einsatz der kleineren Atomwaffen deutlich herabsetzen, wie es auch die regelmäßigen russischen Androhungen nuklearer Schläge und die augenblickliche Übung mit taktischen Atomwaffen an der ukrainischen Grenze nahegelegt haben.

Besonders hoch einzuschätzen sei auch das Risiko des Einsatzes von Nuklearwaffen in Asien.

Einige Eurasier brennen zweifellos schon darauf, Zahl und Vernichtungskraft ihrer Atombomben wieder zu vergrößern.

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg droht nicht nur Dmitri Medwedew bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit seinem widerlichen A-Bomben-Kaka, dasselbe tut auch Putins Berater Sergej Karaganow, der ein besonders abschreckendes Kuriosum darstellt.
Die russische Führung spielt den Idioten perfekt ... Oder liegt hier der Fall vor, dass Idioten den "Normalen" spielen? Psychopathen von dieser Art würden Atombomben auch nur zum Spaß anwenden!


Ein im Juni 2023 in verschiedenen russischen Medien veröffentlichter Artikel Karaganovs ("Eine schwere, aber unerlässliche Entscheidung") forderte explizit den Einsatz von Atomwaffen gegen Europa [Karaganov 2023].

Dass die Europäer nach 75 Jahren Frieden nun die Furcht vor den Russland vom Allerhöchsten gegebenen Atomwaffen verlassen habe, zeige das ganze Ausmaß "ihres Verlusts an strategischer Kultur [!]" [Karaganov 2023].

Hier darf man sich bezüglich des "Allerhöchsten" von der blasphemischen Doppeldeutigkeit nicht irreführen lassen, tatsächlich gemeint sein kann nur Stalin!

Dessen nukleares Abschreckungspotential müsse wiederhergestellt werden, damit die seit 500 Jahren herrschende Hegemonie des Westens endlich beendet und der Widerstand gegen eine 'uralosibirische Zivilisation' gebrochen werden könne.


Dazu reiche es nicht, die "in eine historische Falle geratenen Bewohner" der als Ukraine bezeichneten Landschaft zu zermalmen, der gesamte Westen müsse niedergerungen werden.
Zu diesem Zweck werde jetzt die "Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen" herabgesenkt.
Eingeleitet durch ähnliche Statements der russischen Führung waren bereits Atomwaffen-Trägersysteme nach Belorus verlegt worden.
[Karaganov 2023]


Verhandlungen mit den europäischen Eliten seien zwecklos, weil diese ihren Selbsterhaltungstrieb eingebüßt hätten; statt dessen seien diese Eliten durch Atomschläge gegen verschiedene Länder "zur Besinnung" zu bringen [Karaganov 2023].

Dieser zweifellos erfolgreichen Militärstrategie werde von Ländern wie auch China vielleicht nicht sofort zugestimmt werden, mit den Jahren werde sie aber eine lichte Zukunft herbeiführen. Schließlich bedürfe ja auch China noch der nuklearen Rückendeckung Russlands ...

Die "Karaganov-Doktrin" beinhaltet demnach, dass ein Staat, der es schon nötig hat, sich mit einer Maximal-Ausrüstung von Atomwaffen zu schmücken, damit auch das Recht gewinnt, diese anzuwenden!


Man sieht deutlich, die Ära, in die sich Russland oder jedenfalls der Putin-Kreis zurücksehnt, ist das Jahr 1986. Die USSR war dank ihrer 40159 Atomsprengköpfe (von 64449 weltweit) [Bulletin 2024] unbesiegbar und hatte sogar Afghanistan besetzt.
Nur kam es ausgerechnet im Zenith der nuklearen Wehrhaftigkeit der Sowjetunion zur Kernschmelze von Tschernobyl. Wegen der sich daraus ergebenden Folgekosten sah sich Gorbatschow gezwungen, den Militärapparat abzuspecken und aus Afghanistan abzuziehen.

Damals hatte die Sowjetunion die us-amerikanische Atommacht deutlich in die Schranken gewiesen. Die hatte auf ihrem Zenith mit 31255 Sprengköpfen (von 40073 weltweit) im Jahre 1967 geglaubt, sich aus einer Position der Stärke heraus in Vietnam engagieren zu müssen [Bulletin 2024].

Offensichtlich findet das Putin-Regime nun eine besondere Befriedigung darin, das atomare Wettrüsten noch einmal neu aufzurollen - als das verspätete Schattenkabinett der Weltanschauungen eines Joe McCarthy!




Quellen-Angaben:

Eckhard Henscheid/ Gerhard Henschel: Jahrhundert der Obszönität. Berlin, 2000.
-- Abschn. “Beethoven kritisieren! Konfuzius verurteilen!”

Ian Morris: Krieg - Wozu er gut ist. Frankfurt/ New York, 2013.

Sergej Karaganov: Eine schwere, aber unerlässliche Entscheidung (in: osteuropa. 73. Jahrgang [2023]/ Heft 3-4: “Russlands verlorene Kriege”)

'Bulletin of the Atomic Scientists' online. Stand: 31.5.2024.





©  Stephan Theodor Hahn, Bad Breisig, am 12.6.2024